Kleinigkeiten

Als ich gestern von einem Spaziergang nach Hause kam, entdeckte ich in meinem Postkasten eine Nachricht vom Paketboten. Mein Päckchen befände sich bei den Nachbarn in der ersten Etage oder im Erdgeschoss. Ich machte mir keine großen Gedanken, weil es in den letzten Monaten zur Sitte geworden ist, dass die Pakete irgendwo im Hausflur abgestellt werden. In diesem Fall befand sich mein Päckchen jedoch nicht im Hausflur. Für viele Menschen wäre es nun eine „Kleinigkeit“ gewesen, ins Erdgeschoss zu laufen und an der Haustüre zu klingeln. Und wenn das Päckchen dort nicht untergebracht ist? Tja! Dann danke, tschüss, und ab in die nächste Etage.

Ich hingegen schlich augenblicklich in meine Wohnung, schloss leise die Tür, und lief eine halbe Stunde lang grübelnd von einem Fleck zum anderen. Dann kam ich zu dem Punkt, dass ich wohl oder übel auf mein Päckchen warten muss. Angenehm ist das für mich nicht, aber ich kann nur hoffen, dass irgendwer in der betreffenden Wohnung etwas Mitleid verspürt. Ich hoffe, dass diese entsprechende Person es entweder zu mir bringt oder es wenigstens in den Hausflur stellt. Allein der Gedanke daran, in die nächste Etage zu laufen, dort an der Tür zu klingeln und nach meinem Päckchen zu fragen, bereitet mir innere Unruhe. Eigentlich durfte bekannt sein, dass ich der Einsiedlerkrebs hier unten im Souterrain bin. Eventuell habe ich in der letzten Zeit aber auch zu oft Leute hier aus dem Haus gegrüßt, um noch als schrulliger Freak zu gelten.

Solche „Kleinigkeiten“ erschweren mir ziemlich häufig das Leben. Beispielsweise muss ich mich noch immer in jeglicher Situation meines Lebens daran erinnern, dass ich andere Menschen grüßen sollte. Es wird für mich einfach nicht zur Gewohnheit, auch nach Jahren des Einübens nicht. Am Mittwoch ging ich in den Chor und setzte mich einfach auf meinen Platz; und dabei habe ich nicht nur die Begrüßung vergessen, sondern auch die Neujahrswünsche. Aufgefallen ist mir das später erst, als weitere Leute kamen und ihre Glückwünsche aussprachen. Auch wenn ich Leute hier im Städtchen treffe, vergesse ich häufiger die Begrüßung. Einmal habe ich mit meinem Fahrrad eine Vollbremsung hingelegt, mich umgedreht, und schnell noch die üblichen Worte gerufen. Begrüßungen sind mir an sich schon wichtig, weil sie zu einer freundlichen Begegnung dazugehören. Trotzdem muss ich sie mir in Erinnerung rufen, als befände ich mich bei der Wissensabfrage einer wichtigen Prüfung.

Also weiß ich, das wird er wieder nicht schaffen, denn auch am folgenden Tag werde ich nicht ans Telefon gehen, so dass ich gezwungen bin, selbst zurückzurufen. Das ist zwar immer noch besser, als den ganzen Tag Angst vor einem Anruf zu haben, aber trotzdem bleibt es stressbehaftet.
SWB

Für viele Menschen scheint es auch eine „Kleinigkeit“ zu sein, einfach spontan ans Telefon zu gehen. Wenn ich jedoch einen Anruf auf meinem Mobiltelefon registrierte, bekomme ich fast einen Herzstillstand. Augenblicklich zittern mir die Hände. Meine Festnetznummer besitzen nur sehr wenige Menschen. Ich weiß aber noch, wie oft ich zusammengezuckt bin, wenn damals ein Anruf auf dem Festnetztelefon meiner Eltern einging. Ich bekam meist sofort Herzrasen, obwohl ich so gut wie nie den Hörer abgenommen habe; allein das Klingeln versetzte mich nahezu in einen panischen Zustand. Auf einen Anruf warten zu müssen ist gar noch schlimmer, weil ich mich dann auf nichts anderes mehr konzentrieren kann, als eben auf den bevorstehenden Anruf.

Gerade die Situation auch, wenn ich an der Supermartkasse, an einem Ticketschalter, beim Bäcker an der Theke oder sonstwo stehe, und hinter mir fängt jemand laut zu reden oder telefonieren an, habe ich größte Mühe, noch einen klaren Satz herauszubringen bzw. zu verstehen, was der Verkäufer mir sagt.
Forscher

In einer gut besuchten Bäckerei seine Bestellung aufgeben? Für viele Menschen sicher der alltägliche Wahnsinn und eine „Kleinigkeit“. Ich hingegen verstehe in dieser Situation meine eigenen Worte nicht mehr, verliere die Kontrolle über meine Stimmlage und die Lautstärke meiner Sätze. Nicht selten fragt das Fachpersonal hinter der Theke dann: „Was haben Sie bitte gesagt?“ Im besten Fall brauche ich etwas aus dem Sichtfenster, so dass ich mit dem Finger auf meinen Wunsch deuten und mich auf diese Weise mitteilen kann. Im schlechtesten Fall muss ich versuchen, meine Bestellung quer durch den Laden zu brüllen. Meist verhasple ich mich dann auch noch, weil meine Konzentration inzwischen auf dem Nullpunkt angekommen ist.

Eine „Kleinigkeit“ scheint es auch zu sein, andere Menschen ständig am Arm zu berühren. Seien es Personen aus dem Chor, die mir während eines Gesprächs plötzlich an den Arm fassen, oder Menschen im Supermarkt, weil sie in einem Gang oder an der Kasse an mir vorbei wollen. Diese unvorbereiteten Berührungen sind es, die wie Feuerblitze durch meinen Körper ziehen.

Genau diese „Kleinigkeiten“ sind es, die mir an manchen Tagen extrem zusetzen. Während ich in anderen Situationen offensiver bin, bringen mich genau diese „Kleinigkeiten“ total aus dem Konzept und erschweren mir das Leben. Wie oft wurde mir gesagt, dass ich all diese Dinge doch mit genügend Wiederholung lernen kann?! Ich frage mich jedoch, wie viele Wiederholungen dazu nötig sind?! Wie viele Telefonate muss ich in meinem Leben noch führen, um mich endlich an diesen Prozess zu gewöhnen?! Wie viele Menschen muss ich noch grüßen, ehe dieser einfache Vorgang sich festgesetzt hat?! Wie viele laute Umgebungsgeräusche muss ich noch ertragen, bis ich es endlich schaffe die wichtigen Informationen rauszufiltern?! Wie viele Berührungen muss ich über mich ergehen lassen, ehe sie zur Gewohnheit für mich werden?!

2 Kommentare zu „Kleinigkeiten

  1. Ich möchte dich nicht verletzen oder verschrecken oder was auch immer. Aber vielleicht wird auch die millionste Berührung nie zur Gewohnheit, das zigtausende Klingeln des Telefons lässt dich erstarren, das Herausfiltern der relevanten Informationen aus Hintergrundgeräuschen wird mit den Jahren eher schwerer, weil altersbedingt noch Schwerhörigkeit dazukommt und auch mit über 50 Jahren kann es je nach Verfassung noch sein, dass du Begrüßen oder Verabschieden vergisst. Ich frage mich, wie das wird, wenn noch Altersdemenz mit dazu kommen sollte. Aber vermutlich hat so etwas keinen Einfluss und es liegt eher an meiner jeweiligen Überlastung, ob ich an die Höflichkeitsfloskeln denke oder sie vergesse.

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    1. Es verletzt und erschreckt mich nicht, weil das auch meine Gedanken sind. Es wird nicht zur Gewohnheit, es ist kein Lernprozess. Ich kann mir gut vorstellen, dass es mit dem Alter eher schwieriger wird; auch wenn ich diesen Gedanken im Moment lieber verdrängen möchte. Ich hab heute Morgen noch zu meiner Oma gesagt, dass ich froh bin, keinen Blick in die weiter entfernte Zukunft richten zu können. Ich bin ja viel in Kontakt mit älteren Menschen (also so ganz verdrängen lassen sich Themen wie Demenz für mich nicht).

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